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“Wir wussten nicht, wie die Russen sind, wir wussten nicht, wie wir sind”

“Wir wussten nicht, wie die Russen sind, wir wussten nicht, wie wir sind”

Der Krieg hat jeden von uns bloßgestellt. Er hat jemandem alles genommen, aber ein großes Herz hinterlassen, jemanden aus dem Haus getrieben und nur Gemeinheit hervorgebracht. Aber für die meisten Menschen ist es zu einem Anreiz geworden, das wahre Selbst zu entdecken. Alles, was sich früher hinter künstlichen Beschäftigungen, sozialen Rollen und erfundenen Charakteren verbarg, ist jetzt in voller Kraft ans Licht gekommen.

Für Oleh Halajdytsch, einem 31-jährigen Biophysiker aus Charkiw, der über periphere Schmerzen forschte und am Kyiver Institut für Physiologie arbeitete, veränderte eine Nacht auf dem Parkplatz alles. Er dreht einen Dokumentarfilm und glaubt, dass er wieder in die Wissenschaft zurückkehren kann.

Dieses Interview wurde im Rahmen des Projektes der Ukrainischen Katholischen Universität “Kleine Geschichten des großen Krieges” durchgeführt. Das Projekt hat zum Ziel, die Welt mit den Hunderten Schicksalen des menschlichen Lebens bekannt zu machen, die der Krieg stärker gemacht hat. Nachdem sie alles verloren hatten, sind sie im Glauben gewachsen und haben sich selbst wiedergefunden. Keiner von ihnen ist ein Marvel-Superheld. Sie sind gewöhnliche Ukrainer. Es gibt Millionen von ihnen. Sie erstarrten nicht in Erwartung des Sieges, gerieten nicht in Panik und gaben nicht auf. Sie tun einfach, was sie können. Hier und jetzt. Um dann gemeinsam mit der ganzen Welt den Sieg des Guten über das Böse zu feiern.

Oleh, wie sah Ihr erster Kriegstag aus? Wie haben Sie sich gefühlt?

Am Morgen wurde ich von meinem Mitbewohner geweckt, mit dem ich zusammen die Wohnung miete. Ich habe von Anfang an nicht verstanden, was passiert ist. Jeder wusste mehr oder weniger, dass die Möglichkeit eines Krieges bestand. Die Stadt bereitete sich vor, es “schwebte” in der Luft. Es gab viele Berichte aus den Medien, aus den Vereinigten Staaten. Trotzdem gab es am Morgen des 24. Februar einen Schockmoment. Nachdem ich mich etwas erholt hatte, packte ich schnell meine Sachen, und die erste Idee war, vom linken Ufer [des Dnipro] an das rechte Ufer zu laufen, weil am rechten Ufer alle Verwaltungsgebäude und die meisten Leute sind, bei denen ich bei Gefahr bleiben möchte.

Sie werden überrascht sein, aber ich habe keine einzige Explosion gehört. Wir verbrachten die erste Nacht im Keller des Parkhauses und stellten fest, dass es sich lohnte, die Stadt zu verlassen. Aber ich habe viel über den Krieg gehört. Meine Eltern lebten in Charkiw und waren lange im Keller, daher wusste ich sehr genau, wie das ist. Sie sind erst vor kurzem in Lwiw angekommen.

Wie habe ich es überlebt? Nun, ich habe noch nicht überlebt. Ich habe noch viele Gedanken im Kopf: “Was ist als Nächstes zu tun? Wie lange wird es noch dauern? Wo soll ich leben? Wo soll ich arbeiten?” Weil die Universität, wo ich arbeite, ist in Kyiv, im Stadtzentrum, mitten im Regierungsviertel. Und jetzt gibt es keine Möglichkeit zu arbeiten, und es gibt nur wenige Orte mit solchen Besonderheiten der Arbeit in der Ukraine. Man muss sich irgendwie umstellen, seinen Platz finden. Mal sehen, wie es sich entwickeln wird, wie lange es dauert.

Oleh Galaidych, biophysicist from Kharkiv

Wie sind Sie zum Theater Les‘ Kurbas gekommen?

Ich bin Wissenschaftler, aber mein Hobby ist der Dokumentarfilm. Kurz vor dem Krieg arbeitete ich mit einem Freund im Dokumentarstudio von Serhiy Boykowskyj. Als wir dann in Lwiw gelandet sind, mussten wir unseren Platz finden. Ich meldete mich beim Militär, verstand aber, dass ich mit der Einberufung noch nicht sofort / nicht so bald an der Reihe bin. Es war ziemlich schwierig, einen geeigneten Platz zu finden. Ich war an einem Ort, wo “Lwiwer Smoothies”  [Molotowcoctails] gemixt wurden, aber es gab da genug Freiwillige, ich ging zum Blutspenden, aber dort wurde ich auch nicht gebraucht. Man konnte Tarnnetze weben oder Lastwagen mit Hilfsgütern aus Polen ausladen. Aber ich wollte das tun, was ich kann. Und wir haben uns an die Dokumentarfilme erinnert, um zu filmen, was für  die Geschichte von Bedeutung ist. Ich fand eine Kameraausrüstung, mit mehr oder weniger normalem Ton und Bild. Die Idee zum Film hatte ein Freund von mir. Und jetzt filme ich wie die Theaterleute auf den Krieg reagiert haben, wie sie Unterkünfte aufgebaut haben, wo die Flüchtlinge leben, wo sie humanitäre Hilfe sammeln. Ich filme in drei Theatern: hier im Les’ Kurbas Theater, im Les’ya Ukrajinka Theater und im Mariya Zankowetska Theater. Jedes von ihnen hat eigene Besonderheiten, was sehr interessant ist.

Erzählen Sie uns mehr über dieses Projekt von Ihnen?

Ich habe zunächst versucht, die Atmosphäre zu vermitteln, die heute in den Theatern herrscht. In einem Theater spezialisieren sie sich auf Flüchtlinge. Ein anderes Theater, zum Beispiel das Mariya Zankowetska Theater, leistete humanitäre Hilfe, webte Netze. Im Les’ya Ukrajinka Theater gibt es im Allgemeinen eine ganz andere Jugendclique, die das Essen zubereitet, es an Bahnhöfe liefert, sowie an Warteschlangen bei Militärregistrierungs- und Einberufungsämtern. Es gibt dort auch einen kleinen vorläufigen Schutzort für die Menschen.

Jetzt versuche ich näher an die Menschen zu kommen, an die Freiwilligen, wähle die Hauptfiguren aus. Und eigentlich wird hier alles viel interessanter. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie groß der Verlauf sein wird – wird es kurz oder lang sein. Vor einigen Stunden hat eine Freundin mir angeboten, sich um ein Stipendium zu bewerben. Ich kann noch nicht sagen, von welcher Stiftung, aber das Stipendium richtet sich an junge Menschen, die Filme produzieren, um ihnen zu helfen. Und es wäre ein angenehmer Anstoß für die Entwicklung dieses Projekts, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Bisher ist das meine eigene Initiative.

With the beginning of the war in Ukraine, the Lesya Kurbas Theater in Ukraine became a military hostel, and its actors became volunteer coordinators

Welche Pläne hatten Sie vor dem Kriegsbeginn? 

Mein Leben hat aus zwei Teilen bestanden: die Forschungstätigkeit und das Dokumentarwesen. Ich bin mein ganzes Erwachsenenleben mit Wissenschaft, Physik und Biologie beschäftigt: Studium, dann Postgraduiertenstudium in den Niederlanden und Rückkehr in die Ukraine, um hier zu arbeiten. Außer der Arbeit habe ich Kamera- und Dokumentarfilmregiekurse besucht. Als der Krieg begann, war das die Mitte der Woche und wir hatten Meisterkurs für Dokumentarfilm. Es gibt eine IndiLab Schule, die von der Botschaft der Vereinigten Staaten gesponsert wird. Jedes Jahr werden etwa 10 Dokumentarfilmprojekte gesammelt. Wir hatten mit meiner Freundin die Idee, einen dokumentarischen Kurzfilm über die Menschen zu drehen, die in der U-Bahn singen: Straßenmusiker, Sänger. Das ist ein sehr interessantes Phänomen, das es fast in jeder Stadt gibt, wo es auch die U-Bahn gibt. Wir wollten es erforschen und darüber einen poetischen Essay schreiben.

Ich hatte Urlaub für eine Woche und tauchte voll und ganz in die Dokumentarfilme ein. Gerade in der Woche vor dem Krieg hatten wir zwei oder drei Workshops, wo uns beigebracht wurde, wie man über die Struktur des Filmes nachdenkt. Das war unglaublich interessant. Der letzte Tag war der Tonaufnahme, den verschiedenen Arten von Mikrofonen etc. gewidmet. Und in der Nacht fing alles an. Leider endeten die Workshops für uns plötzlich, und es begann eine ganz andere Realität, die bis heute immer noch an Fiktion grenzt.

Wir wussten nicht, wie die Russen sind, wir wussten nicht, wie wir sind. Ich denke, viele von uns waren überrascht, wie stark unsere Streitkräfte sind, wie die gesamte Ukraine reagiert hat, wie die Menschen sich zusammengeschlossen haben. 

Haben Sie Bekannte in Russland? Stehen Sie mit einem von ihnen in Kontakt?

Ja. Bis 2014 studierte ich am Institut für Physik und Technologie (MPTI) in Moskau. Dieses Institut hatte eine Filiale in Kyiv. Dort wurden jährlich 35 Studenten für ihr Studium ausgewählt, die gute Leistungen bei den Wettbewerben in Physik und Mathematik gezeigt haben. Schließlich ist das MIPT eines der stärksten Institute für Physik und Mathematik im postsowjetischen Raum. Ich habe viele Freunde aus der Zeit meines Studiums. Aber die Anzahl der Freunde wurde nach der Majdan-Revolution kleiner. Ich habe drei Freunde, mit denen ich momentan Freundschaft pflege. Der erste Freund wohnt in den Niederlanden, in derselben Stadt, wo ich während der Aspirantur studierte. Der andere hat eine Weiterbildung als Wirtschaftler gemacht und arbeitet jetzt als Associate Professor in Hong Kong. Der dritte wurde Philosoph, schreibt eine Dissertation in Deutschland, in der Stadt Wuppertal. Ich habe mit ihnen tiefen Kontakt. Sie sind gegen den Krieg und führen  aktive Informationskampagne in den sozialen Netzwerken.

Hat sich Ihre persönliche Meinung  zum Russen geändert? Fühlen Sie Angst, Haß?

Zuerst hatte ich Angst, viel Wut und Haß. Aber zur Zeit hat sich alles geändert. Ich versuche, mir diese schrecklichen Videos mit Leichen nicht anzusehen. Wahrscheinlich ermutigen diese Videos jemanden, aber meine Psyche funktioniert so, dass ich das wirklich nicht sehen möchte. Zur Zeit werde ich viel härter und halte die Russen für Feinde, die beseitigt werden müssen. Viele Menschen wurden betrogen. Sie stehen unter dem Einfluss der Propaganda. Viele Menschen bitten um Entschuldigung, sie schämen sich. Es ist mir jetzt egal. Ich verstehe, dass sie nichts tun können. Aber das Ausmaß der Bedrohung hat unser Leben so stark verändert, dass alle diese Entschuldigungen, “Sorry”, mir egal sind. 

Welche Gedanken lassen Sie jetzt nicht mehr los? Auf welche Fragen haben Sie keine Antworten?

Wie lange wird es dauern? Können wir das überleben? Wird mit Charkiw dasselbe passieren wie mit Aleppo? Muss ich mein ganzes Leben neu ordnen? Muss ich andere Beschäftigungen suchen? Kann ich mich mit der Wissenschaft beschäftigen? Kann ich in meine Heimatstadt zurückkehren? Verwandelt sich meine Stadt zum zerbombten Berlin oder zum Beispiel in Dresden? Wahrscheinlich gehen alle meine Gedanken an die Zukunft in die Irre, wie sich das Leben ändern wird, wie man es organisiert, aber das Leben wird anders als früher sein. Ich habe viele Gedanken. Gleichzeitig überlege ich, wie ich nützlich sein kann, was ich jetzt machen kann. So viele Gedanken.

Haben Sie als erfolgreicher Wissenschaftler über einen Umzug in den Westen nachgedacht?

Nun, zunächst einmal darf ich momentan? nicht ausreisen, ich bin 31 Jahre alt. Zweitens würde ich nicht gehen wollen. Ich wollte da sein und habe diese Entscheidung nicht bereut – ich bin aus den Niederlanden zurückgekommen, wo ich in Frieden leben und den Karriereweg eines Wissenschaftlers fortsetzen konnte. Aber mein ganzes Leben, alles was mich wirklich beschäftigt, befindet sich hier, und ich bin froh da zu bleiben.

Was haben Sie in den letzten zehn Tagen über das Land, in dem Sie geboren sind, über ihre Verwandten erfahren? Wie sehen Sie die Perspektive der Ukraine?

Ich bin überzeugter Optimist. Mir scheint, wenn wir gewinnen, wenn wir überleben, warten auf uns interessante Tage. Ich bin beeindruckt von dem Zusammenhalt der Menschen. Ich bin beeindruckt, wie den russischsprachigen, prorussisch eingestellten Menschen bewusst wurde, dass es unser Land ist, und dass wir alle einig sind. Wir haben verstanden, dass wir handeln müssen, nicht den Kopf in den Sand verstecken, sondern irgendwie helfen müssen. Es ist unglaublich, dass das passiert. Und die Militärbewegung, die Warteschlangen vor den Einberufungsbüros. Wenn wir es überleben, denke ich, werden wir eine interessante Zukunft haben.

Wie sehen Sie diese Zukunft?

Ich hoffe sehr, dass Russland zu schwach wird, dass es wirtschaftlich und politisch stagniert. Unsere Aufgabe ist, unsere Städte wieder aufzubauen. Was ist unsere Perspektive? Sich entwickeln, nur vorwärts. Wir alle verstehen den Preis des Friedens und würden alle gerne ein normales Land aufbauen. Genaueres ist jetzt schwer zu sagen. Ich kann nur über mich reden. Ich will alle meine Kräfte auf den Bereich der Wissenschaft, Bildung und Kino richten, weil das ein sehr wichtiger Teil meines Lebens ist.

Wann werden Sie nostalgisch, und verstehen Sie, dass die Nostalgie nicht zurückkehren wird?

Es ist schwierig für mich, das zu sagen, weil ich während der Zerstörung nicht in Charkiw war. Alles, was ich weiß, habe ich über den Telefonbildschirm wahrgenommen. Das erzeugt einen Effekt der parallelen Realität. Manchmal muss ich mich “kneifen”, um mich zu überzeugen, dass es wahr ist. Ich verstehe, dass wir viele Jahre und große finanzielle Hilfe brauchen, um alles wieder aufzubauen. Die ersten 18 Jahre habe ich in Charkiw gelebt. Kyiv wurde in den letzten 2 Jahren zur Heimat. Ich möchte unbedingt zum linken Ufer zurückkehren, wo sich meine gesamte Filmausrüstung befindet. Ich möchte zurück ins Institut, vor allem ins Vivarium, wo die Tiere leben. Leider haben wir Tierversuche gemacht. Jetzt blieb dort nur Andriy, der sie unterstützt. Es gibt Probleme mit der Lieferung von Futter für sie, weil niemand  Futter für einige Ratten und Mäuse liefern will. Nostalgie. Nostalgie nach dem normalen Leben.

Was fehlt Ihnen jetzt?

Ich kann nicht klagen. Ich habe eine Unterkunft. Gute Menschen haben mich aufgenommen. Ich mache weiterhin meine Lieblingsbeschäftigung. Aber es fehlt das Leben, wie es war.

Was wollen Sie als erstes tun, wenn der Krieg zu Ende ist?

Ich weiß nicht, ich bin noch nicht darauf gekommen. In den ersten fünf Tagen hatte ich den starken Wunsch, mich zu rasieren. Sehr banal, so einfache Dinge.

  • Zu welchen Umstände werden wir Ihrer Meinung nach nach dem Sieg nicht zurückkehren?

Ich hoffe, hoffe sehr, dass wir die Illusionen über unseren Nachbarn Russland überwinden werden. Es war schwierig, die Worte ernst zu nehmen, dass die Russen die neuen Nazis sind, dass Putin der neue Hitler ist. Und jetzt verstehst du, dass es tatsächlich so ist. Humanitäre Krise, Beschuss von Wohngebieten. Es wird offensichtlich, dass sie sich nicht an die Moral halten. Sie ist nicht da. Sie wollen die Ukraine um jeden Preis erobern. Um Putin zu beschreiben, fällt mit nur das Fluchen ein. Das ist eine verrückte, nicht normale Person. 

Wir werden in der Lage sein, die Gebäude zu restaurieren, aber wir werden niemals die Menschen zurückbringen. Es gab auch Gedanken, dass Menschen, die den Krieg durchgemacht haben, anders werden. Sie haben so einen “inneren Kern”, und sie sind später im Leben weniger zögerlich, leben jeden Tag ein erfülltes Leben. Andererseits sagten meine Freunde, dass “grauer Alltag”  so schlimm ist. Jetzt verstehen wir, dass grauer Alltag etwas Tolles ist.

Und doch kehre ich zu den Gedanken von Andriy Tarkovskyj zurück, der von seinen Vorgängern sprach, bei denen er studierte, von Olexandr Dowzhenko: das sind Menschen, die den Krieg erlebt haben, die hatten so einen inneren Kern, sie waren nicht mehr infantil, sie wussten, wofür sie leben und was sie in ihrem Leben tun wollen.

Haben Sie so einen inneren Kern bekommen?

Ich weiß nicht, schwierig zu sagen. Vielleicht ist er noch im Entstehen. Wir wissen nicht, was vor uns liegt und welche Herausforderungen noch kommen.

 

Gespräch führte: Nataliya Starepravo

Übersetzerin: Kateryna Buchko

Korrektur: Ansgar Tombrink

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